Algerien zwischen Kolonialismus, Revolution und Islam


Artikel für „Position“, Magazin der SDAJ, Herbst 2000

Algerien, das Land der XV. Weltfestspiele der Jugend und StudentInnen, hat eine lange und wechselvolle Geschichte hinter sich. Eine Geschichte, die von Unterdrückung, Kolonialismus und Widerstand geprägt ist.

Die ersten bekannten EinwohnerInnen des Gebietes, das wir heute Algerien nennen, waren berberische Nomaden, die bis heute eine bedeutende Minderheit der algerischen Bevölkerung darstellen. In seiner Geschichte war Algerien oftmals das Ziel von Angriffen und Besetzungen, angefangen bei den Phöniziern und Römern. Den größten und bis heute spürbaren kulturellen Einfluß hatten jedoch die arabischen Invasionen im 8. und 11. Jahrhundert unserer Zeitrechnung.

1830 wurde Algerien von Frankreich besetzt. Es begann eine mehr als 100 Jahre dauernde Zeit des Kolonialismus. Die französischen Besatzer griffen zu allerlei Legenden, um ihre Herrschaft in Nordafrika zu legitimieren, angefangen mit einem „notwendigen Kampf gegen die Piraten im Mittelmeer“, womit niemand anderes als die algerischen Seefahrer gemeint waren, die den französischen Händlern noch immer Konkurrenz machten, obwohl die algerische Handelsflotte zu diesem Zeitpunkt durch fortgesetzte französische Überfälle und Zerstörungen bereits fast völlig zerstört worden war.

Gleichzeitig sprachen die europäischen Besatzer von einem „menschenleeren“ Land, das sie der „Zivilisation“ erschließen wollten. In den ersten Jahren der Eroberung waren es vor allem die Militärs, die das Land erkundeten und das für die Kolonisierung notwendige Wissen über Land und Leute sammelten. Neben ihren militärischen Aufgaben, die in der Unterwerfung der Bevölkerung des Landes und der Absicherung ihrer Herrschaft bestanden, wurden sie schnell auch zu Verwaltern, Richtern, Händlern und Forschern. Sie durchquerten das Land, in den ersten drei Jahrzehnten fast nur den Norden Algeriens, verwüsteten ganze Dörfer und Städte, ermordeten, verjagten oder enteigneten die BewohnerInnen, raubten oder töteten die Herden, verbrannten die Felder und plünderten die Habseligkeiten der Menschen. Ein Offizier der Besatzungstruppen sprach es in einem Brief offen aus: „Sie fragen mich, was wir mit den Frauen machen, die wir festnehmen. Wir behalten einige als Geiseln, die anderen werden ausgetauscht gegen Pferde und der Rest wird versteigert wir die Tiere. Alle Männer bis zum 15. Lebensjahr töten, alle Frauen und Kinder nehmen, sie auf Schiffe laden, sie zu den Inseln Marquises oder anderswohin schicken; mit einem Wort, alles vernichten, was nicht vor unseren Füßen wie die Hunde kriecht.“

Von Anfang an leisteten die AlgerierInnen Widerstand und fügten der französischen Armee Niederlagen zu. Den stärksten und organisiertesten Widerstand leisteten die AlgerierInnen unter Emir Abd-El-Kader, dem es gelang, weite Landstriche mit ihren Chefs und der Bevölkerung zu vereinen und wiederaufzubauen. Die französische Armee scheiterte mehrfach bei dem Versuch, den Aufstand niederzuschlagen und sah sich schließlich sogar gezwungen, mit dem Emir Verträge zu schließen, die ihre Kontrolle über einen Großteil Algeriens verhinderten. Erst nach einer massiven Verstärkung der französischen Truppen auf mehr als 70.000 Soldaten, der Bruch der vereinbarten Verträge und systematische Vernichtungsfeldzüge führten 1847 zur Niederlage Abd-El-Kaders. Die Zerstörung der algerischen Wirtschaft führte zu großen Hungersnöten, die Ausrottung der Bevölkerung war erklärtes Ziel der Armee, die auch nach der Niederschlagung Abd-El-Kaders weiterhin mit Aufständen konfrontiert war. Die Armee wurde weiter verstärkt, bis sie schließlich 110.000 Mann umfaßte, was einem Soldaten auf 30 AlgerierInnen entsprach. Erst 1871/72 waren die größten Aufstände gebrochen, doch auch danach kam es immer wieder zu Revolten.

Am Ende dieser blutigen Eroberung hatte mehr als ein Viertel der zuvor vier Millionen Menschen zählenden algerischen Bevölkerung durch Krieg, systematische Vernichtung, Epidemien und Hunger ihr Leben verloren.

Wie auch Jahrhunderte zuvor in der „Neuen Welt“, Amerika, beteiligte sich auch in Nordafrika die Kirche aktiv am Kampf gegen die einheimische Bevölkerung. Die Missionare lieferten der Kolonisierung den religiösen Mantel, nach dem es sich bei dem Krieg gegen die AlgerierInnen um einen Kreuzzug handele, in dem Frankreich der Soldat sei, der über die Sahara hinweg ganz Afrika dem Evangelium darbieten werde, wie es der Erzbischof von Algier, Lavigerie, ausdrückte.

Rund 100 Jahre lang war Algerien ein „an Frankreich angeschlossenes Departement“. Während Frankreich Algerien als Teil des nationalen Territoriums betrachtete, verweigerte es den AlgerierInnen die vollen Staatsbürgerrechte, insbesondere das Wahlrecht und den Zugang zu gehobenen Ämtern des öffentlichen Dienstes sowie zum Offizierskorps der französischen Armee. Zur Diskriminierung wurde die islamische Religionszugehörigkeit instrumentalisiert: Der algerischen Bevölkerung wurden einige wenige Elemente des islamischen Familien- und Erbrechts gelassen. Die Fortexistenz dieser Bruchstücke wurde dann dazu benutzt, den Rechtsstatus der AlgerierInnen als sujets français, als französische Untertanen, nicht aber als citoyens, als Staatsbürger, zu zementieren.

1954 brach der algerische Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich aus. In dem siebenjährigen Krieg verloren mehr als 250.000 AlgerierInnen und rund 10.000 französische Soldaten ihr Leben. Die Städte waren zerstört und mehr als zwei Millionen Menschen waren aus ihrer Heimat vertrieben worden. Mit der Niederlage der französischen Besatzer und der Unabhängigkeit Algeriens 1962 verließ die große Mehrheit der französischen Techniker, Fachleute und anderer Experten das Land. Die revolutionäre algerische Regierung der Nationalen Befreiungsfront (FLN) unter Ben Bella war dazu gezwungen, die Wirtschaft des Landes völlig neu aufzubauen, eine Situation, die in dieser Hinsicht der Situation der Kubanischen Revolution drei Jahre zuvor glich. Und auch in anderer Hinsicht verstanden sich das revolutionäre Algerien und das revolutionäre Kuba prächtig. Che Guevara besuchte mehrfach das Land, die kubanischen RevolutionärInnen drückten mehrfach ihre Unterstützung für Algerien aus und umgekehrt unterstützte Algerien aktiv revolutionäre Bewegungen in anderen Ländern. Ein Jahr nach der Unabhängigkeit wurden die von den geflohenen französischen Siedlern zurückgelassenen Ländereien enteignet, nationalisiert und in staatliche Farmen umgewandelt, die von Arbeiterkomitees bewirtschaftet wurden. Obwohl Algerien sich niemals den sozialistischen Staaten anschloß, trugen Wirtschaft und Gesellschaftsordnung in dem nordafrikanischen Land durchaus sozialistische Züge und die antiimperialistische Rolle, die Algerien über Jahrzehnte spielte, war dem kapitalistischen Lager durchaus ein Dorn im Auge.

Mitte der 60er Jahre sollten schon einmal die Weltfestspiele der Jugend und StudentInnen in Algerien stattfinden, doch ein Militärputsch am 19. Juni 1965 vereitelte diese Pläne. Ben Bella wurde abgesetzt und vom Armeeführer Boumedienne ersetzt, doch auch dieser setzte den antiimperialistischen Weg Algeriens fort. So unterstützte Algerien aktiv den Befreiungskampf des Volkes der benachbarten Westsahara gegen die marokkanische Besatzung. Die Flüchtlingslager der Frente Polisario, der sahaurischen Befreiungsbewegung, befinden sich im algerischen Teil der Sahara, von wo aus auch Radio- und Fernsehstationen der Frente Polisario senden und die Befreiungsbewegung ihre Aktionen unternimmt. Doch nicht nur in der unmittelbaren Nachbarschaft war Algerien aktiv. Jahrelang strahlte ein Rundfunksender des chilenischen antifaschistischen Widerstandes von Algerien aus nach Südamerika, fanden Flüchtlinge aus vielen Ländern Zuflucht in dem nordafrikanischen Land.

Im Oktober 1988 kam es zu schweren Unruhen in Algier und anderen algerischen Städten, bei denen nach inoffiziellen Schätzungen mehr als 500 Menschen ihr Leben verloren. Diese Aufstände erschütterten die Regierung, wobei die zeitliche Nähe zu den damals bereits sichtbaren Erschütterungen in den sozialistischen Ländern Europas wohl kaum ein Zufall gewesen sein dürfte. Das System wurde „liberalisiert“, das politische Monopol der FLN aufgehoben und alle Bezüge auf den Sozialismus aus der Verfassung getilgt. Nur der aus revolutionären Zeiten stammende offizielle Name des Landes, Volksdemokratische Republik Algerien, blieb bis heute unverändert.

Bei den Kommunalwahlen 1990 errang die Islamische Heilsfront (FIS) in der Mehrheit der Provinz- und Gemeinderäte klare Mehrheiten. Die erste Runde der Wahlen zur Nationalversammlung im Dezember 1991 ergab einen noch größeren Erfolg der FIS, die nur knapp unter der absoluten Mehrheit blieb und in der zweiten Runde zweifellos einen überwältigenden Wahlerfolg eingefahren hätte. Doch wenige Tage vor dieser zweiten Wahlrunde, am 12. Januar 1992, übernahm die Armee die Macht im Land und annullierte die Wahlen. Dies war der Auftakt zu einer brutalen Terrorwelle, deren Opfer in erster Linie die Zivilbevölkerung war und ist, und einer bis heute gespannten Situation mit weitgehend offenem Ausgang.

André, Hamburg