Algerien


Referat von Michael Opperskalski

Schlagzeilen im Sinne des Wortes machen die gesellschaftlichen Entwicklungen in diesem nordafrikanischen Land kaum mehr, dennoch berichten die bürgerlichen Medien mehr oder weniger regelmäßig in kleinen Meldungen über Algerien. Diese Berichte – meist Kurzmeldungen internationaler Nachrichtenagenturen – informieren hauptsächlich über neue Massaker der islamistischen Faschistenbanden. Ich möchte dennoch zwei Meldungen jüngeren Datums herausgreifen, die zum einen aus der Regel der „Massakerberichterstattung„ herausfallen, zum anderen, vielleicht deswegen, einiges über Hintergründe der gesellschaftlichen Entwicklungen in der „Demokratischen Volksrepublik Algerien“ aufzeigen.

So berichtet das Zentralorgan der bundesrepublikanischen Bourgeoisie, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, am 5. Juli 2000 folgendes: „Deutschland betrachtet Algerien als zentralen Partner im Afrika nördlich der Sahara. ‚Ohne Algerien geht nichts in dieser Region’, sagte der Staatsminister im Auswärtigen Amt Volmer im Gespräch mit der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung’. Es liegt im Interesse Deutschlands und der Europäischen Union (EU), die politische Neuorientierung in dem nordafrikanischen Land zu unterstützen, sagte Volmer, der Ende des vergangenen Monats (gemeint ist also der Juni 2000, d.Verf.) Algerien besucht hatte.“ Knapp einen Monat zuvor, am 28. Juni 2000, wusste die „Neue Züricher Zeitung“ zu vermelden: „Die algerische Parlamentsabgeordnete und Führerin des Parti des Travailleurs („Arbeiterpartei Algeriens„, d.Verf.), Louisa Hanoune, hat sich im Fall des inhaftierten Islamistenführers Belhadj an Staatspräsident Bouteflika gewandt. Belhadj in die Nummer zwei des verbotenen Front islamique du salut (FIS) und seit 1991 in Haft. Seine Familie hatte Hanoune gebeten, sich für die Verbesserung der Haftbedingungen Belhadjs einzusetzen.„

Das erste Zitat belegt anschaulich, dass es sich bei Algerien nicht um ein fernes Land ohne strategische und ökonomische Bedeutung handelt, was im Umkehrschluss für das Land bedeutet, dass sich die gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse nicht ohne Interesse von den bedeutenden imperialistischen Hauptmächten verfolgt werden. In der Periode der sogenannten „Neuen  Weltordnung„ schließt dies alle Formen imperialistischer Einmischung wie auch die Austragung imperialistischer Konkurrenz mit allen Konsequenzen ein.

Das zweite Medienzitat lüftet ein wenig den Vorhang vor den politischen Auseinandersetzungen, die in Algerien zur Zeit geführt haben und die einen entscheidenden Einfluss auf den weiteren Entwicklungsweg des Landes haben. Bei der „Parti des Travailleurs„ (PT; „Arbeiterpartei Algeriens„, d. Verf.) handelt es sich um eine trotzkistische Formation, die in entschiedenen Opposition zur algerischen Regierung steht und – gemeinsam mit anderen Oppositionsgruppen – in unterschiedlicher Form gemeinsame Sache mit den islamistischen Faschisten macht. Ziel dieser Kooperation mit den islamistischen Faschisten ist es, über eine Rehabilitierung dieser in Form der Partei FIS die Regierung strategisch zu schwächen, was schließlich zu einer Regierung unter Einschluss der sogenannten Oppositionskräfte – auch der islamistischen Faschisten – führen soll.

In Algerien trachten also gleich mehrere Mühlsteine danach, das Land zu zermahlen. Ein gnadenloser Terrorismus der islamistischen Faschisten, eine sogenannte „demokratische Opposition„ (zu der auch die oben genannten Trotzkisten gezählt werden wollen) sowie die imperialistischen Mächte des Westens (einschließlich ihrer nationalen Helfershelfer und Wasserträger), die dem Land einen knallharten neoliberalen Entwicklungsweg aufzwingen wollen.

Die Härte der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen lässt sich nur mit der ökonomischen Bedeutung wie geostrategischen Lage Algeriens erklären. Das ökonomische Gewicht fußt vor allem auf den bereits geförderten (und vor allem auch noch vermuteten) Rohstoffen des Landes: Öl, Erdgas, Eisenerz, Phosphat, Zink- und Bleierz, Schwefelspat und Salz. Geostrategisch liegt das Land im Herz der Region des sogenannten Maghreb (Marokko, Mauretanien, Tunesien, Libyen, Algerien). Entwicklungen im Herz dieser Region beeinflussen das gesamte Umfeld und darüber hinaus den gesamten Nahen und Mittleren Osten. Wir verstehen damit, warum es auch der bundesrepublikanischen Bourgeoisie nach mehr Einfluss in dem nordafrikanischen Land lechzt und Ludger Vollmer dies dankenswerter Weise in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung„ hinausposaunt…

Hintergründe

Einige Quellen für die Probleme von heute lassen sich in der Geschichte Algerien finden. Algerien gehört zu jenen Ländern, denen das Brandeisen des Kolonialismus besonders tief und lange eingedrückt wurde. Die Kolonialgeschichte begann bereits 1830 mit der Einnahme Algiers durch die Franzosen. Diese lange und intensive Kolonialgeschichte des Landes begründet den tiefen frankophonen Einfluss nicht nur auf die Eliten, sondern auf alle gesellschaftlichen Bereiche Algeriens. Hinzu kam eine starke Siedlerbewegung von Franzosen nach Algerien, die vom französischen Kolonialherrn initiiert wurde, um den arabischen Charakter des Landes zu zerschlagen und ihm mit Gewalt einen französischen Staatsapparat, eine französische Kultur, eine französische Elite, französische Spezialisten und Facharbeiter sowie französische Großgrundbesitzer überzustülpen. Algerien sollte eben für immer zu Frankreich gehören…

Der Widerstand des algerischen Volkes gegen den französischen Kolonialismus begann bereits kurz nach der Einnahme Algiers durch Frankreich; so sei hier beispielsweise die Widerstandsbewegung unter Emir Abd Al-Kadir genannt, die 1832 begann und sich immerhin bis 1947 „halten“ konnte. Da es dem französischen Kolonialismus niemals gelang, den Freiheitswillen des algerischen Volkes zu ersticken, wurden die Repressalien gegen den Volkswiederstand immer brutaler und wahlloser.

Dieser Widerstand wurde mit Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch organisierter und politischer. In den 20er und 30er Jahren entstanden verschiedene Widerstandsorganisationen, entwickelte sich die Gewerkschaftsbewegung und wurde 1936 die „Algerische Kommunistische Partei„ gegründet, die zunächst als Sektion innerhalb der „Französischen Kommunistischen Partei„ (FKP) gewirkt hatte. An dieser Stelle sei jedoch auf ein Problem hingewiesen, das nicht ohne Auswirkungen auf weitere politische Entwicklungen bleiben sollte. Die Führung der FKP vertrat bereits in dieser Frühzeit in der „Algerienfrage„ – entgegen den Positionen der kommunistischen Weltbewegungen – nationalistische Positionen. So lehnte sie faktisch lange die Unabhängigkeit des Landes ab, konzentrierte ihre Tätigkeit in Algerien im wesentlichen auf die im Lande lebenden Franzosen, sperrte sich „mit Händen und Füßen„ gegen die Gründung einer eigenständigen „Algerischen Kommunistischen Partei„ und strebte nach deren Gründung danach, deren Politik zu kontrollieren und der der FKP-Führung unterzuordnen.

Damit wird es verständlich, dass die algerischen Kommunisten abseits standen (und auch von bürgerlichen und kleinbürgerlichen Elementen leicht isoliert werden konnten), als sich die verschiedenen algerischen Widerstandorganisationen zur „Nationalen Befreiungsfront„ (FLN) zusammenschlossen, die am 1. November 1954 mit dem bewaffneten Kampf begann, der von der „Nationalen Befreiungsarmee„ (ALN) geführt wurde. Der bewaffnete Kampf endete am 18. März 1962 mit der Anerkennung der Unabhängigkeit Algeriens durch Frankreich. Das Unabhängigkeitsstreben hatte dem algerischen Volk über 1 Million Tote gekostet…
Die Zahl ist nackt und brutal zugleich, belegt sie doch, in welcher grausamen Form der Krieg von französischer Seite aus geführt wurde und damit durchaus den Charakter eines Völkermords gleichkam. Für den französischen Imperialismus war eben „nur ein toter Algerier ein guter Algerier„.

Dennoch, je brutaler die Unterdrückung der Unabhängigkeitsbewegung wurde, desto stärker und politisch breiter wurde sie. Daher ist verständlich, dass der politische Arm der Widerstandsbewegung, die FLN, die unterschiedlichsten Kräfte einschloss, die im Kampf gegen den gemeinsamen Feind, den französischen Imperialismus, vereint waren: bürgerliche und religiöse Kräfte, kleinbürgerliche Intellektuelle, Bauern und landlose Tagelöhner, linke Gewerkschafter und arabische Nationalisten, kämpferische, klassenbewusste Arbeiter und kleine Bazarhändler, Anhänger des wissenschaftlicher Sozialismus und Politiker, die von einer frankophonen bürgerlichen Demokratie in einem formal unabhängigen Algerien träumten.
Damit mussten zwangsläufig Auseinandersetzungen über den künftigen Entwicklungsweg ausbrechen, nachdem Algerien formal unabhängig geworden war.
Schon die Tagung des „Nationalrates der Algerischen Revolution„ vom 27.5 bis 7.6.1962 in Tripolis (Libyen) war von diesen Auseinandersetzungen geprägt, dennoch konnten sich die anti-imperialistischen und national-demokratischen Kräfte durchsetzen, was in der Annahme eines politischen Programms gipfelte, das auf eine demokratische Volksrevolution und einen nicht-kapitalistischen Entwicklungsweg orientierte.

Auf dieser Basis konstituierte sich am 25.9.62 die algerische Nationalversammlung und wählte Ahmed Ben Bella zum ersten Ministerpräsidenten des unabhängigen Algerien. Die Klassenauseinandersetzungen um den Entwicklungsweg des Landes verschärften sich jedoch, prägten auch den 1. Parteitag der FLN, der vom 16.4. bis zum 21.4. 1964, der zwar mit der Verabschiedung der „Charta von Algier„ nicht nur die Orientierung auf eine national-demokratische und anti-imperialistische Entwicklung Algeriens erneuerte, sondern diese in wesentlichen Bereichen auch konkreter ausformulierte. Mit der Verabschiedung der „Charta von Algier„ verstärkte und radikalisierte sich zugleich der Widerstand der Reaktion, unterstützt vom französischen und nordamerikanischen Imperialismus. Ministerpräsident Ben Bella wurde zur Kristallisationsfigur dieser Kreise und er nutzte seine Position für einen schleichenden Staatsstreich. Seit dem Beginn des Jahres 1964 kam es zu Repressionen gegen Kommunisten, linke Gewerkschafter und anti-imperialistische Kräfte.

In dieser Situation des schleichenden Staatsstreiches, des wachsenden Chaos und der sich intensivierenden imperialistischen Intervention entschloss sich ein „Nationaler Revolutionsrat„ unter Oberst Houari Boumediène am 19.06.1965 die Geschicke des Landes in die Hand zu nehmen. Oberst Boumediène verkörperte wie kein anderer die konsequent anti-imperialistischen, revolutionären Kräfte innerhalb der bewaffneten Kräfte der algerischen Widerstandsbewegung. Der Machtübernahme durch den „Nationalen Revolutionsrat„ folgte eine Vertiefung des revolutionären Prozessen in Algerien. Diese Entwicklung gipfelte dann in der Bestätigung der algerischen Nationalcharta in einem Volksreferendum am 27.6.1976. Die algerische Nationalcharta bestimmte den weiteren Kurs der Revolution als einen auf die Schaffung der Voraussetzungen für die Errichtung des Sozialismus gerichteten Prozess.

Wichtige Errungenschaften

Im Zuge der Vertiefung des revolutionären Prozesses kam es zu bedeutenden Veränderungen im Land. Diese seien an dieser Stelle nur stichwortartig aufgeführt:
Die Banken, Versicherungen, das Nachrichtenwesen sowie der Außenhandel wurden nationalisiert sowie die reichen Bodenschätze nationaler Kontrolle unterstellt. Mit Beginn der 70er Jahre entwickelten sich wichtige Ansätze für den Aufbau einer nationalen Schwerindustrie, vor allem zur nationalen Verarbeitung der Rohstoffe des Landes.

Die Deviseneinnahmen des Landes – vor allem aus dem Verkauf der Rohöls – wurden verwandt, um die brennendsten sozialen Probleme des Landes anzugehen sowie überhaupt erst einmal eine umfassende Infrastruktur aufzubauen: Alphabetisierungskampagnen und Aufbau eines funktionierenden Schul- und Bildungssystems, flächendeckende Gesundheitsvorsorge, subventionierte Preise für billige Grundnahrungsmittel etc.
In dieser Phase der gesellschaftlichen Entwicklung Algeriens war es auch das ausgesprochene Ziel der revolutionären Führung, die notwendigen Veränderungen im Bereich der Landwirtschaft anzupacken. Diese Zielsetzungen wurden 1971 in der „Charta der Agrarrevolution„ festgelegt.  Kern dieses Programms war der Aufbau von demokratisch strukturierten landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, deren Agrarproduktion langfristig die Eigenversorgung des Landes sichern helfen sollten.

Im außenpolitischen Bereich spielte Algerien eine konsequent anti-imperialistische Rolle. Zu nennen sind hierbei beispielhaft die sich ausweitenden Beziehungen mit den sozialistischen Ländern, die konsequente Unterstützung der cubanischen und palästinensischen Revolution sowie anti-kolonialer Befreiungskämpfe in Afrika und revolutionärer Bewegungen in Asien und Lateinamerika, die führende Rolle Algeriens bei der Gründung der „Afro-Asiatischen Volkssolidaritätsorganisation„ (AAPSO), den prägenden Einfluss der algerischen Revolution auf die arabische Nationalbewegung, aber auch das progressive Gewicht des Landes innerhalb der Bewegung der sogenannten blockfreien Staaten.

Die Vertiefung des revolutionären Umgestaltungsprozesses wurde mit dem Tod Boumediénes abgebrochen. Ihm folgte Oberst Chadli Benjedid als Vorsitzender des „Nationalen Revolutionsrates„ und der FLN.

Ungelöste Fragen und wachsende Probleme

Chadli Benjedid galt von Beginn an als Kompromisskandidat zwischen den verschiedenen Flügeln der FLN und der Armee. Zwar hatte die Machtübernahme des „Nationalen Revolutionsrates„ 1965 den reaktionären Kräften einen schweren Schlag versetzt und so die notwendigen Voraussetzungen für eine Vertiefung des revolutionären, anti-imperialistischen und national-demokratischen Entwicklungsweges geschaffen, damit war der Klassenkampf jedoch nicht beendet und jene politischen Kräfte von der Bildfläche verschwunden, die den eingeschlagenen Weg aufhalten und zurückdrehen wollten (und wollen).

Zudem schuf der nun einsetzende Stillstand der gesellschaftlichen Entwicklung jene Probleme, die zu einem schrittweisen Wachsen pro-imperialistischer, bürgerlicher und konterrevolutionärer Kräfte, ökonomischer Probleme, Rückschritten bei angelaufenen Programmen, sich verschärfender politischer Auseinandersetzung um den Grundkurs der Entwicklung als Ausdruck des anhaltenden Klassenkampfes sowie der Herausbildung einer korrupten, bürokratischen Schicht führten, was schließlich in das Chaos Ende der 80er Jahre einmündete, aus dem die islamistischen Faschisten ihr Kapital zu ziehen versuchten.
Einige dieser Probleme sollen hier angerissen werden:
1) Zwar wurde – wie bereits erwähnt – ein umfangreiches Nationalisierungsprogramm durchgesetzt sowie Grundlagen für eine eigene Schwerindustrie gelegt, dennoch ist es niemals gelungen, die gesamte ökonomische Entwicklung des Landes auf die Basis eines gesamtgesellschaftlichen Planes zu stellen. Die Fortschritte basierten im wesentlichen aus den Öleinnahmen des Landes (so kamen über 90% der Einnahmen im Außenhandel aus dem Export vor Rohstoffen, insbesondere Erdöl und Erdgas). Der Aufbau nationaler ökonomischer Strukturen blieb lediglich in Ansätzen stecken die zunehmend mehr Devisen verschlangen;
2) Die anhaltende Abhängigkeit von den Öleinnahmen bedeutete zudem, dass faktisch alle Sozialprogramme, der Aufbau der Infrastruktur etc. von den schwankenden Deviseneinnahmen abhängig wurden;
3) Gerade im Außenhandel (und dem von ihm abhängigen ökonomischen Sektoren) bildete sich eine bürokratische, teilweise korrupte Schicht heraus, die am Status Quo , nicht jedoch an einer Vertiefung des revolutionären Prozesses ein objektives und subjektives Interesse hatte;
4) Die Entwicklung der Landwirtschaft auf genossenschaftlicher Basis kam aus den Kinderschuhen – trotz gegenteiliger Pläne – nicht heraus. Eine Zahl soll dies belegen: In den 80er Jahren existierten zwar 6000 Genossenschaften mit ca. 1,1 Millionen ha Anbaufläche. Zur gleichen Zeit verfügten jedoch etwa 170.000 privatwirtschaftlich organisierte landwirtschaftliche Produktionseinheiten über mehr als 4,4 Millionen ha. Gerade in diesem Bereich kam es dann auch faktisch wieder zur Herausbildung von Großgrundbesitz ähnlichen Strukturen. So konnte die landwirtschaftliche Produktion nie mehr als 40% des Eigenbedarfs decken und auch der genossenschaftliche Sektor verschlang einen wachsenden Devisenanteil an Subventionen. Damit wurde auch der landwirtschaftliche Sektor des Landes zur Quelle einer Herausbildung und Stärkung reaktionärer Kräfte, auf die sich dann später die islamistischen Faschisten stützen konnten;
5) Für die Schaffung der Vorraussetzungen für die Errichtung des Sozialismus wäre es auch notwendig gewesen, die Rolle der Arbeiterklasse zur führenden gesellschaftlichen Kraft auszubauen und zu stärken. Diese Aufgabe hätten die FLN und die Kommunisten (jetzt umbenannt in: „Partei der Sozialistischen Avantgarde Algeriens„) übernehmen müssen. Auch die schwankende Politik der algerischen Kommunisten – auf einige Hintergründe habe ich ja bereits weiter oben verwiesen – war mitverantwortlich dafür, dass sich die konsequentesten Kräfte innerhalb der FLN nicht in diesem Sinne durchsetzen konnten;
6) Nicht unerwähnt bleiben darf jedoch, dass der Zeitraum, der für eine umfassende, stabile und geschlossene Umgestaltung des Landes vorhanden war, im wesentlichen den lediglich kurzen Zeitabschnitt von 1965 (Machtübernahme durch den „Nationalen Revolutionsrat) bis 1978 (Tod Boumediènes) umfasste. Vieles war gerade erst „angepackt„ worden, während sich der Klassenkampf im Lande objektiv verschärfte.

Die Entwicklung läuft außer Kontrolle

Ende der 80er/zu Beginn der 90er Jahre explodierten die Probleme, die Entwicklung geriet außer Kontrolle. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das sich rasant entwickelnde Chaos hatte natürlich auch die – zeitweise – siegreiche Konterrevolution in den sozialistischen Ländern Ost-Europas, insbesondere der Sowjetunion und der DDR. Damit fielen für Algerien nicht nur wichtige Handels- und Sicherheitspartner weg, das scheinbare und von den Herren Imperialisten aus allen Rohren herausposaunte „Ende des Sozialismus„ gab natürlich – nicht nur (!) – in Algerien konterrevolutionären Kräften aller Couleur und im Schlepptau der anbrechenden sogenannten „Neuen Weltordnung„ einen ungeheueren Auftrieb.

Dementsprechend formierten sich in dem nordafrikanischen Land jene Kräfte, die der verbürokratisierten, steckengebliebenen und von ökonomischen wie sozialen Problemen heftigst geschüttelten algerischen Revolution nun endgültig den Garaus machen wollten.
Politisch wurden diese Kräfte im wesentlichen von drei Strömungen repräsentiert:
a) bürgerliche Kräfte wie die Sozialdemokraten („Front der Sozialistischen Kräfte„; FFS, Mitglied der „Sozialistischen Internationale„) oder Anhänger der „Sammlungsbewegung für Kultur und Demokratie„ (RCD) oder der „Bewegung für die Berberkultur„ (MCB);
b) die islamistischen Faschisten, zunächst vor allem organisiert in der FIS
c) die konterrevolutionären Trotzkisten der PT

Die FLN wurde regelrecht zerrieben, obwohl sie bis heute weiter besteht. Teile der Partei unterstützen offen die Formierung der FIS (hatten sie doch schon in den 80er Jahren politische Zugeständnisse an Forderungen islamistischer Kreise gemacht wie z.B. die Rücknahme von entscheidenden Teilen der progressiven Familiengesetzgebung), andere unterstützten die bürgerlichen Kräfte, viele zogen sich aus dem politischen Leben zurück oder verharrten orientierungslos angesichts der immer dramatischer werdenden Entwicklungen. Manche FLN-Funktionäre versuchten lediglich mit allen Tricks, Taktiken und Kniffen an der Macht oder zumindest an Schaltstellen für die „Profite in die eigenen Taschen„ zu bleiben. Dementsprechend gingen sie wechselnde Koalitionen mit allen ein, die ihnen ein Überleben zu sichern schienen,

Als die FIS Ende 1989 schließlich legalisiert wurde, wuchs sie schnell zur stärksten konterrevolutionären Kraft, der es in rasantem Tempo gelang, über kommunale Machtpositionen ganze Regionen praktisch unter ihre Kontrolle zu bekommen. (Auch international) aufgewertet wurden sie zudem durch die strategische und taktische Kollaboration, die bürgerliche Kräfte und die konterrevolutionären Trotzkisten mit der FIS eingingen. Bei der Kampagne zur Aufwertung der islamistischen Faschisten der FIS spielte die internationale Sozialdemokratie eine besonders aktive Rolle. Ihre algerische Mitgliedsorganisation, die FFS, am finanziellen Trog der regierenden „Sozialistischen Partei Frankreichs„, hat sich für ein Bündnis mit den islamischen Faschisten entschieden. Ohne die „Sozialistische Internationale„ im Hintergrund hätte z.B. die internationale Kampagne für die Rehabilitierung der FIS und der Appell zu Verhandlungen mit der FIS nicht ein solches Ausmaß annehmen können…

Welche Ziele die islamistischen Faschisten von Beginn an verfolgten, geht aus folgenden Zitaten eindeutig hervor:

· Abass Madani, FIS-Führer : „Wir sind bereit, zwei Drittel der Bevölkerung zu opfern, damit das übrige Drittel in der Lage ist, den Weg Gottes zu gehen.„
· Abdelkader Hachani, Nummer 3 der FIS: „Es gilt der islamische Staat oder der Tod!„
· Ali Belhadj, FIS-Führer, hatte bereits 1990 in der FIS-Zeitung „El Mounquid„ sieben Kategorien von zu ermordenden Personen aufgestellt: Polizisten und Gendarmen natürlich, Journalisten, „laizistische„ Demokraten, „verkommene„ Künstler, „entartete„ Intellektuelle und Frauen, deren Platz für die islamistischen Faschisten am Herd zu sein hat, die sich aber „von Weichlingen, Halb-Männern und Transsexuellen„ verwirren lassen
· Im Juli 1991 nahm die FIS zum Abschluss ihres Kongresses in Batna eine Entschließung an, in der der Übergang zum bewaffneten Kampf für den Fall gefordert wurde, dass es durch Wahlen nicht gelingen würde, „das islamische Khalifat zu errichten„

Wir sehen, Sprache und Zielsetzung der FIS erinnern überdeutlich an die  Afghanistan terrorisierenden Taliban, was auch nicht verwunderlich ist, wurden doch viele FIS-Kader in den 80er Jahren von afghanischen Islamisten und der CIA im gemeinsamen Kampf gegen die demokratische Regierung Afghanistans und die Sowjetunion ausgebildet.

Die islamistischen Faschisten redeten jedoch nicht nur vom bewaffneten Kampf, sie bereiteten in ganz konkret vor. Unmengen an Waffen wurden in unterirdischen Verstecken gehortet, Waffenfabriken aufgebaut, Tausende ihrer Anhänger militärisch gedrillt. Kurzum: der Sturm auf Algier wurde vorbereitet.

In dieser Situation entschlossen sich patriotische Kräfte der Armee 1992, der drohenden Machtübernahme durch die islamistischen Faschisten einen Riegel vorzuschieben und die FIS zu verbieten. Die islamistischen Faschisten (wenig später auch unter dem bekannten Kürzel GIA operierend) begannen übergangslos – dank ihrer umfangreichen Vorbereitungen – damit, das ganze Land mit einer bisher nicht gekannten Terrorwelle zu überziehen. Ihr ausgesprochenes Ziel war es in dieser Phase, neben den Repräsentanten des Staates und insbesondere seiner Sicherheitsorgane alle jene Teile der Bevölkerung im Wortsinn zu liquidieren, die nicht mit ihnen waren. Dafür gibt es nur einen Ausdruck: Völkermord, Genozid…

Die Schätzungen über das Ausmaß der durch den Terror der islamistischen Faschisten umgekommenen Menschen gehen auseinander. Manche bürgerliche Medien sprechen von über 100.000 Ermordeten. Mir zugängliche offizielle Zahlen stammen aus dem Jahr 1997. Der damalige algerische Premierminister sprach in einer Fragestunde des Parlaments von 26.500 Getöteten und 21.100 Verletzen, wobei die Zahl der ermordeten Sicherheitskräfte in diesen Zahlen nicht enthalten sein dürften. Zu den von den islamistischen Faschisten verübten Morden und Verwüstungen machte der Sekretär des größten algerischen Gewerkschaftsverbandes UGTA, Sidi Said, im November 1997 folgende Angaben: 400 Gewerkschafter wurden ermordet, darunter drei Nationalsekretäre. Zerstört oder beschädigt wurden 930 Klassenräume, 8 Forschungs- und Entwicklungsinstitute, 1020 Verwaltungsgebäude, drei Universitätszentren, 630 Betriebe. 1020 Fahrzeuge wurden in Brand gesteckt. Auf 2.240 Stromleitungen und 90 Fernmelderelaisstationen wurden Sprengstoffattentate verübt.

Ein weiteres, besonderes Element dieses Terrorismus ist es, dass er sich direkt gegen die organisierte Arbeiterbewegung Algeriens sowie die progressivsten und revolutionärsten Kräfte des Landes mit dem ausgesprochenen Ziel der physischen Vernichtung derselben richtet.

In diesem Krieg der islamistischen gegen das algerische Volk wird eine Strategie deutlich: neben der Ausmerzung all jener, die sie nicht zu ihren Anhängern zähl(t)en, ging es vor allem auch darum, die ökonomischen Strukturen und sozialen Einrichtungen (insbesondere jene, die im Zuge der algerischen Revolution als ihre Errungenschaften entstanden waren) sowie die Infrastruktur des Landes zu zerschlagen, auch um die sozialen Probleme des Landes weiter explodieren zu lassen und im Chaos neue Anhänger – mit Gewalt oder ideologischer Beeinflussung – gewinnen zu können. Eine klassische „Strategie des Chaos„ also, die von Faschisten auch in anderen Ländern eingesetzt wurde, um an die Macht zu gelangen!

Terrorismus in zwei Phasen

Die Terrorkampagne der islamistischen Faschisten lässt sich zeitlich im wesentlichen in zwei Phasen unterteilen. Die erste Phase (von 1992 bis Ende 1995) wird am besten als „versuchter Staatsstreich bzw. Kampf um die Macht„ umschrieben. Die ihr zugrunde liegende „Strategie des Chaos und des Terrors„ wurde bereits eingehend beschrieben. In der Tat hatten die islamistischen Faschisten in diesem Zeitraum die reelle Chance in Algerien an die Macht zu gelangen. Daher war in jenen Tagen auch ihr Versuch zu beobachten, neben der Organisierung des Massenterrors gegen Andersdenkende, „Ungläubige und Unbelehrbare„ eine gewisse Massenbasis aufzubauen, die sie unter Ausnutzung der objektiv vorhandenen und sich zuspitzenden sozialen Basis zu rekrutieren suchten. In diesem Zeitraum genossen die islamistischen Faschisten von FIS und GIA die umfangreichste ausländische Unterstützung: aus reaktionären arabischen Staaten, dem Iran, der CIA, dem BND und dem französischen Geheimdienst. Sie alle glaubten, mit ihrer Hilfe für die algerischen islamistischen Faschisten bereits um die Aufteilung des „reichen Kuchens„ dieses Landes zu kämpfen.

Das Jahr 1995 kann jedoch zurecht als Wendepunkt in der Entwicklung angesehen werden.  In diesem Jahr beteiligte sich das algerische Volk mehrheitlich an Nationalwahlen zum Parlament des Landes. Damit folgte es weder dem Boykottaufruf der sogenannten „demokratischen Opposition„ und der konterrevolutionären Trotzkisten, noch ließ es sich von den islamistischen Faschisten einschüchtern, die vor den Wahlen damit gedroht hatten, jeden umzubringen, der sich an ihnen beteiligen werde. Zugleich waren die Sicherheitskräfte in der Lage, den geregelten Ablauf der Wahlen gegen den Versuch abzusichern, diese durch organisierten Terror unmöglich zu machen. Die Tatsache, dass die Wahlen abgehalten werden konnten und sich die Algerier mehrheitlich an ihnen beteiligten, belegte eine Tendenzwende in vielerlei Hinsicht. Den islamistischen Faschisten war es nicht mehr möglich, auf Basis ihrer „Strategie des Chaos und des Terrors„ auf den Gewehrläufen reitend an die Macht zu gelangen, ihre Unterstützerbasis begann bereits zu diesem Zeitpunkt, massiv zu bröckeln, ein bedeutender Teil der sogenannten „demokratischen Opposition„ sowie die konterrevolutionären Trotzkisten hatten sich als billige und willige Helfershelfer der islamistischen Faschisten entlarvt – ob aus opportunistischen, taktischen oder gar strategischen Gründen spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Diese Kräfte hatten – unter Einschluss der FIS (!) – in den Jahren 1994 und 1994 die sogenannte „Plattform von Rom„ zusammengezimmert. Diese „Plattform von Rom„, auf deren Basis der Boykott der Wahlen von 1995 durch die sie unterstützenden Kräfte u.a. begründet wurde, ist nichts anderes als die offizielle politische Legitimierung der Machtergreifung der islamistischen Faschisten durch sogenannte „demokratische Kräfte„, vergleichbar vielleicht mit der Zustimmung der „Zentrums-Partei„ und anderer konservativer und reaktionärer „demokratischer Kräfte„ im Jahr 1933 zum Ermächtigungsgesetz Adolf Hitlers…

Seit Ende 1995 hat sich die Strategie der islamistischen Faschisten – die heute fast ausschließlich unter dem Kürzel GIA operieren – unter der Einsicht, dass sie nun nicht mehr unmittelbar um die Macht im Lande kämpfen können, gewandelt. Diese Strategie kann am besten als „Strategie der anhaltenden Destabilisierung„ beschrieben werden. Vom „militärischen Gesichtspunkt„ aus bedeutet diese Strategie, dass eine direkte Konfrontation mit den algerischen Sicherheitskräften nach Möglichkeit vermieden wird und sich die Terroraktionen daher vor allem um Aktionen gegen unbewaffnete Zivilisten in abgelegeneren Gebieten  sowie gegen ausgesuchte, schlecht oder nicht bewachte ökonomische Ziele sowie infrastrukturelle Einrichtungen richten. Diese Kampagne hält bis heute an. Obwohl derzeit nicht mehr mit einer Machtergreifung durch die islamistischen Faschisten gerechnet werden muss, erfüllt die „Strategie der anhaltenden Destabilisierung„ dennoch keine unwichtige Funktion. Sie hält die Gesellschaft unter permanentem Druck und in permanenter Anspannung, verursacht weiter ökonomische und soziale Probleme und liefert damit jenen politischen Kräften in der algerischen Gesellschaft die „politische Munition„, um immer weitere neoliberale Maßnahmen zum Abbau der Errungenschaften der algerischen Revolution politisch legal als Maßnahmen zur angeblichen wirtschaftlichen Konsolidierung durchzusetzen. Stichworte hierfür sind dabei vor allem: anhaltende, wenn auch schleppende Privatisierungen, Budgetkürzungen in sozialen Bereichen, Öffnung des algerischen Marktes und der ökonomischen Strukturen des Landes für multinationale und transnationale Konzerne, der Abbau von Arbeiter- und Gewerkschaftsrechten.

Anti-Imperialistische Kräfte weiter in der Defensive

Obwohl die islamistischen Faschisten in militärischen Hinsicht strategisch geschlagen sind, hält der Druck auf die anti-imperialistischen Kräfte weiter unvermindert an. Da ist zum einen der internationale und nationale Druck auf die algerische Regierung, irgendeine Art von strategischem Kompromiss mit den islamistischen Faschisten einzugehen. Einige algerische Patrioten befürchten sogar, dass es unter bestimmten Konstellationen möglich sein könnte, die FIS – in welcher Form  auch immer – wieder zu legalisieren, seit der Terror ausschließlich unter dem Kürzel GIA firmiert (wobei seit 1992 jedem klar ist das FIS und GIA lediglich zwei Seiten ein und derselben Medaille sind) und die Versuche von Teilen der sogenannten „demokratischen Opposition„ sowie von Seiten der konterrevolutionären Trotzkisten anhalten, die FIS und einige ihrer Führer politisch zu rehabilitieren.
Zusätzlichen Druck üben jene politischen und ökonomischen Maßnahmen aus, die neoliberale Politik- und Wirtschaftspläne in Algerien umsetzen sollen. Auf diese Weise wird keines der brennenden sozialen Probleme gelöst, sondern vielmehr die Reste der Errungenschaften der algerischen Revolution entweder ausgehöhlt, bis ins Unkenntliche verzerrt oder eliminiert.
Vor allem jedoch sind die anti-imperialistischen Kräfte des Landes noch zu unorganisiert und ihr Handeln ist auch als Konsequenz hieraus zu unkoordiniert. Die algerischen Kommunisten, vor allem in der „Algerischen Partei für den Demokratischen Sozialismus„ (PADS) organisiert leben aus objektiven wie auch leider selbst verschuldeten Gründen hauptsächlich im selbst gewählten, europäischen Exil, die revolutionären und anti-imperialistischen Kräfte in der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung und unter den Intellektuellen sind versprengt. Die stärkste anti-imperialistische Massenbewegung ist sicherlich zur Zeit die „Bewegung der Patrioten„, die fast identisch ist mit den antifaschistischen Selbstverteidigungskomitees von Arbeitern, Bauern und Intellektuellen Algeriens; viele der Aktivisten dieser Bewegung gehören der jungen Generation des Landes an. Ohne ihr aktives Handeln wäre es den Sicherheitskräften des Landes sicherlich unmöglich gewesen, die strategische Offensive der islamischen Faschisten militärisch zu brechen und unzählige ihrer Einheiten zu vernichten. Nicht zu vergessen sind auch zahllose Frauenaktivistinnen. Die stärksten Positionen haben die anti-imperialistischen Kräfte jedoch ohne Zweifel im algerischen Militär bei jenen Offizieren und Mannschaften, die sich den Traditionen der algerischen Revolution und der „alten„ FLN (immer noch und trotz alledem!) verbunden fühlen.
Der Klassenkampf um die grundsätzliche Entwicklung des Landes wird jedoch weitergehen, sich auf dem politischen und ökonomischen Feld sogar noch verschärfen. Wie sich Algerien letztlich national wie international positionieren wird, das ist noch nicht entschieden…

Michael Opperskalski, Köln